Geschichte | Baumeister |
Ruf nach Hilfe | Galerie | Verein | Öffnungszeiten | Impressum |
Kunstlexikon Saar | einige Symposiumsbeiträge |
Stengel-Links |
Betrachtungen
zur Ikonographie der Figuren
auf der Attika am Schloss Dornburg/Elbe von
Stefan Schüler1
|
|||||||||||||||||||
Immer wieder sind Besucher
beeindruckt von den Dimensionen des Schlosses, das weithin
sichtbar sich aus den Elbauen erhebt. Die ursprünglich
weiße Farbgebung dürfte diese Wirkung noch
verstärkt haben. Diese beherrschende Stellung des
Baukörpers über die
Natur wird von der Bauherrin und dem Architekten beabsichtigt gewesen
sein. Bei weiterer Annäherung an das Schloss erschlossen sich
dem früheren Betrachter immer mehr Details, die momentan
leider nicht vollständig vorhanden sind. Während der
Dachsanierung 1999-2001 wurde der größte
Teil des Figurenschmuckes am Mittelpavillon wieder hergestellt. Jedoch
konnten die restlichen
54 Figurengruppen, Putti und Vasen vorerst nicht auf die Attika
zurückkehren.
Gleiches gilt für die 12 künstlichen Palmen, welche
die
Balustrade bekrönten. Der Architekt Friedrich Joachim Stengel
wäre bereit gewesen, den Bauschmuck aus finanziellen
Gründen
zu streichen.2 Jedenfalls
fragt der Hofmaurermeister
Carl Wilhelm Christ im Juli 1753 bei der Rentkammer an, ob, wie von
Stengel
erwogen, die Figuren und Vasen für die Balustrade wegfallen
könnten.3
Offensichtlich war die Bauherrin Johanna Elisabeth von Anhalt-Zerbst
hierzu nicht bereit. Ihr war durchaus bewusst, dass die Gesamtwirkung
eines Barockbaues wesentlich von seinen Details beeinflusst wird.
Außerdem konnte gerade durch die symbolträchtigen
Bilder den Betrachtern ein Programm mitgeteilt werden. Während
den Zeitgenossen allerdings die Bildersprache geläufig war,
müssen wir heute eine Rekonstruktion versuchen. Erschwerend
kommt hinzu, dass einige Putti teilweise oder
ganz zerstört sind. Auf der Attika ergab sich
ursprünglich ein rhythmischer Wechsel von Einzelfiguren,
Gruppen und Vasen. Letztere können in unsere Betrachtung nicht
einbezogen werden, da sie zur
Zeit in Einzelteile zerlegt sind. Es sei lediglich angemerkt, dass an
den Vasen nicht nur Pflanzenschmuck, sondern auch Delfine, Drachen und
Phönixe vorhanden sind. Eine umfassende
Restaurierung des Balustradenschmucks
ließe auf neue Erkenntnisse hoffen. Am 20. und 21. April 1990 wurden die Figuren und Vasen von der Attika (außer Mittelpavillon) genommen. Trotz laufender Sicherungsarbeiten seit den 60er Jahren, die wohl wegen mangelnder Finanzen eher schleppend voran kamen, waren offensichtlich immer wieder Sandsteinteile herunter gestürzt. Die erste Schwierigkeit bestand nun darin, den ursprünglichen Stellplatz jeder Figur wieder zu ermitteln, was nur mit Hilfe historischer Fotos gelang. Die jeweils erste Zahl in der Übersicht (Abb. 1) wurde bei der Abnahme der Figuren auf den Sockel geschrieben, die zweite Zahl bei der späteren Einlagerung der Figuren angehängt. Die erste Nummerierung erscheint logischer, da sie an der Hofseite des nördlichen Rumpfflügels beginnt und dann im Uhrzeigersinn verläuft. Drei Fehler treten hierbei auf:
Laut den Baurechnungen von 1755/56 liefert der Hofbildhauer Johann Christoph Bosmann zwei Palmbäume.4 Als Material kommt hier natürlich nur Stein in Betracht. Einen der genannten Bäume können wir auf verschiedenen Fotos vom Anfang des 20. Jahrhunderts noch an der Ecke Gartenseite/Südseite entdecken, wobei es sich hier eigentlich nur um einen Stamm handelt. Aus Gründen der Symmetrie wird der zweite an der Ecke Gartenseite/Nordseite gestanden haben. Nach demselben Rechnungsbuch wurden dem Schlosser Braun 12 Palmenbäume bezahlt. Entsprechend seiner Profession werden diese aus Metall gewesen sein.4 Der Baumeister Stengel schrieb zum Figurenschmuck der Attika: „Was die beÿ einigen angedeutete Bäume anlanget, könten von Kupfer die Blatter drangemacht werden“.2 Schon auf den ältesten Fotos ist dieses blecherne Laub nicht mehr zu erkennen. Da aber nur an den 10 Gruppen steinerne Stämme vorhanden sind, können wir uns auch nur hier die beschriebene Montage vorstellen. Für die beiden übrigen Palmen mussten an den oben genannten Ecken der Gartenseite extra Träger errichtet werden. Diese Bäume vereinten gleichzeitig die Einzelfiguren dort zu Gruppen. Dadurch löst sich auch folgendes Rätsel: 1754 sollten nach einer Aufstellung des Hofmaurermeisters Carl Wilhelm Christ 18 einfache Figuren, 12 Gruppen und 26 Vasen hergestellt werden.5 Im Rechnungsbuch des Folgejahres werden Bosmann, der hier in seiner Funktion als bestallter Hofbildhauer wohl gleichzeitig "Generalauftragnehmer" ist, aber 9 Gruppen, 26 Vasen, 22 Kinder und die bereits erwähnten 2 Palmen vergütet.4 Eine Gruppe hatte der Bildhauer Ehrlich bereits im Vorjahr abgeliefert.6, S. 227 Es wurden also 4 Einzelfiguren zu 2 Gruppen montiert, was hier rein technisch der Ecksituation geschuldet sein dürfte. Nachdem Professor Georgi Smirnov im Jahre 2002 in der Eremitage in St. Petersburg Pläne für den Dornburger Schlossbau fand (vgl. Beiträge von Prof. Georgi Smirnov und Oranna Dimmig/Stefan Schüler), überraschte uns, dass Stengels Aufrisszeichnung von der Hofseite 4 Palmen auf der Attika zeigt. Die christliche Symbolik der Palme gründet sich auf Psalm 92, 13: "Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum." Allgemein gelten Palmen als Hinweis auf Aufstieg, Sieg und Neugeburt.7 Weiterhin war die Palme das Symbol der "Fruchtbringenden Gesellschaft", die meisten ihrer Mitglieder kamen aus Anhalt. Ihre größte Blüte erlebte sie, nachdem ihr Sitz von Weimar nach Köthen verlegt worden war. Freiherr von Hohberg, selbst Mitglied der Gesellschaft, schrieb: "Der auffgelegten Lasst ein Palmbaum weichet nicht. / Der Sieg verbleibt ihm und bringt süße Frucht. / Auch also wer sich Gott vertraut und recht kann beten / dem steht der Engel Schar zu Dienst in allen Nöthen."7 Wenige Jahre vor dem Schlossneubau ließ die Fürstin Johanna Elisabeth von Anhalt Zerbst ein Buch mit folgendem Titel drucken: "Unverwelklich grünende Palmen / Unsterblicher Tugenden und Verdienste / Auf dem Grabe / Des weiland durchlauchtigsten Fürstens und Herrns / HERRN / Christian Augusts / Regierenden Fürstens zu Anhalt, Herzogs zu Sachsen / ... / Nach / Seiner hochfürstlichen Durchlauchts / Am 16. März 1747 auf Dero Residenz zu Zerbst / Geschehenen / Höchstbedauerlichen Ableben / Zum unvergäßlichen Gedächtnisse / Unauslöschlichen Liebe und ehrerbietigen Treue / Gepflanzet / Von der / Hochfürstlichen Frau Wittwe / Der durchlauchtigsten Fürstinn und Frau / FRAU / Johanna Elisabeth ..."8 Der Sammelband enthält zwar kein Wort aus Ihrer eigenen Feder aber u. a. Trauerreden, welche in den Kirchengemeinden des Landes gehalten wurden. Dadurch war diese Symbolik der Palme damals allen Untertanen bekannt. Erst die "unverwelklich grünende Palmen"8auf der Attika verliehen dem Schlossneubau den Charakter eines Witwensitzes. Gleichzeitig manifestierten sie das Recht der Bauherrin auf einen angemessenen Unterkunft. Da die Bautätigkeit die Kassen des kleinen Landes erheblich belastete, gibt die Fürstin sogar eine knappe Begründung für Errichtung ihrer überdimensionalen Bleibe, indem sie am 15.03.1751 den Zerbster Kammerherrn schreibt: "In solchem Betracht, haben Wir, Obgleich die Vorrechte einer Fürstlichen Witwe uns sattsahm bekandt u(nd) durch exempel in diesem Fürstlichen Hause Satsahm bestättigt u(nd) die Worte Standes Mäßig Unserer Fürstlichen Ehrenstieftung deütlich genug seÿndt, nunmehr (?) dennoch zu erspahrung derer Großen Kosten so solchergestalt der gäntzliche Wieder auf bau des eingeäscherten Theil ob erwehnten Unseres Schlosses zu Wege bringen würde, resolvieret, daß nur allein daß corp de logis, zu Unserer unentbehrlichen Bewohnung, bey herannahender Majorénitét Unseres Hertzlich Vielgeliebten HErrn Sohnes u(nd) Landes Printzens Lbd: wiederumb hergestellet und adaptiret werden Solle."9 In aller Bescheidenheit verlangt eine absolutistische Herrscherin also nur die Wiedererrichtung des Corps de Logis. An der für Repräsentationszwecke wichtigeren Hofseite fallen zuerst 6 (ursprünglich von Palmen bekrönte) Kindergruppen ins Auge, die Werke der Barmherzigkeit darstellen. Bei Matthäus 25, 31-46 stehen 6 Werke der Barmherzigkeit im engen Zusammenhang zum Weltgericht. Ihr unvermutetes Auftreten an einem barocken Profanbau ist nur mit der Funktion als Witwensitz erklärbar, zählen sie doch zu den guten Taten, die ein Gerechter (nur dieser wird grünen wie ein Palmbaum, siehe oben) verbringen muss, um in den Himmel eingehen zu können. Lactantius (3. Jahrhundert) fügte später den sechs Werken als siebtes das Beerdigen der Toten hinzu.Tob. 1, 17 Auch im weiteren Laufe der Kirchengeschichte wurden die nun "Sieben Werke der Barmherzigkeit" öfter neu interpretiert, d. h. aufgespalten, zusammengefasst und variiert, so dass inzwischen mehr als sieben existieren (z. B. Tabelle 1). Tabelle 110
Die linke Figur der Gruppe 16/12 hockt der rechten zu Füßen. Der stehende, rechte Putto legt dem anderen die Hand auf den Kopf. Dieses Handauflegen zeigt die "Übertragung von Macht, Gnade oder Heilkraft. ... Das Handauflegen bei der Konfirmation bedeutet die Übertragung des Heiligen Geistes, der Stärke und Gnade."11 So steht die Gruppe für "Unwissende lehren". Dem linken Putto der Gruppe 14/11 (Abb. 2) fehlt leider die linke Hand. Aus dem Schluss auf Vollständigkeit der "Sieben Werke der Barmherzigkeit" denken wir, dass es sich hier um "Zweifelnden recht raten" handeln müsste. Sie (?) gebietet ihm mit der rechten Hand ängstlich Einhalt und umfasst ihn mit der linken. Der linke, männliche Putto scheint ihr recht optimistisch den Weg zu weisen oder bietet ihr die helfende linke Hand. Bei der Gruppe 12/9 "Sünder zurecht weisen" hält der rechte Putto weiße Rosen und Christrosen (?) in beiden Händen, was wir als Zeichen seiner Unschuld deuten möchten. Der linke Putto hielt wahrscheinlich ebenfalls Blumen in der linken Hand, von denen nur Reste erhalten sind. Außerdem geht diese Hand zur Brust des rechten Putto, was hier wohl die eigentliche Sünde darstellt. Am nördlichen Verbindungstrakt schließt sich die Gruppe 9/24 "Beleidigungen gern verzeihen" an. Obwohl er den linken Putto "vor den Kopf stößt", umarmt ihn dieser. Die beiden nächsten Gruppen erklären sich von selbst:: "Nackte bekleiden" (Abb. 4) und "Kranke/Gefangene besuchen" (Abb. 5). Natürlich bildet der Figurenschmuck der Attika ein Gesamtkunstwerk, das wiederum nur ein Teil des Schlossbaues ist. Unsere bisherigen Einzelbetrachtungen sollen hier nichts zerstören, waren aber notwendig, da sie als Schlüssel dienten. An den Rumpfflügeln scheint nun eine besondere Komplexität gewollt. Die Einzelfigur 1/3 (Abb. 6) hält einen Phönix mit der rechten Hand am linken Flügel und gibt ihm den Tau von den Blättern, denn nur davon soll sich angeblich der Vogel ernähren.7, S.341 Hier ist "Durstige tränken" anzunehmen. Benachbart an der Schmalseite steht die Gruppe 45/21. Ihr linker Putto pflückt Datteln von der Palme (die beide überragt) und gibt sie dem rechten, weshalb wir auf das Werk der Barmherzigkeit "Hungrige speisen" schließen. Ebenfalls zum nördlichen Rumpfflügel gehört die Figur 2/28. Von ihr sind nur noch Bruchstücke und ein Phönix vorhanden, der ihr zu Füßen saß. Auf historischen Fotos erkennt man, dass der Putto einen etwa 1 m langen Blütenzweig in den Händen hielt, von dem nur geringe Reste erhalten blieben. Nach den drei uns vorliegenden verschiedenen Ripa-Ausgaben12, 13, 14 kann es sich nur um Misericordia (Gnade) handeln. Sein Nachbar 4/2 hält eine Getreidegarbe in der linken Hand. In der griechischen Mythologie schickte Demeter als Dank für die erwiesene Gastfreundschaft Triptolemos zu den Menschen, um ihnen den Getreideanbau zu lehren. Die rechte Hand des Putto ruht auf der Brust, was als Dankbarkeit für die erwiesene Gnade gelten darf. Wohl durch die damals häufigen Hungerkatastrophen sahen sich die Bauern dazu veranlasst, dem ersten und letzten Ährenbündel der Ernte besondere Bedeutung zukommen zu lassen. Für das Binden dieser Garben galten besondere Rituale, um das Haus vor negativen Kräften zu schützen. Die Putti des nördlichen Rumpfflügels ergeben also in Kurzfassung folgende Gesamtaussage: Es wird Dank für die erwiesene Gnade gesagt, selbst genügend Nahrung zu haben. Dieser Überfluss soll mit Bedürftigen geteilt werden, um wiederum die Gnade Gottes zu erlangen und seinen Schutz zu erbeten. Symmetrisch zur beschriebenen Figur mit der Getreidegarbe, dort wo der südliche Rumpfflügel an die Hofseite des Seitenpavillons stößt, finden wir einen Putto mit Glocke. Dieses Attribut steht für "die Bewegung der Elemente; ein Zauber gegen die Mächte der Zerstörung. Das Schwingen der Glocke verkörpert die Extreme von Gut und Böse, Tod und Unsterblichkeit; ihre Form symbolisiert das Himmelsgewölbe. ... Das Glockenläuten kann sowohl Einladung als auch Warnruf sein. ... Kirchenglocken rufen und ermutigen die Gläubigen, jagen böse Geister in die Flucht und wenden Unwetter ab."11 Putto 17/0 (Abb. 8) wird also wie sein Pendant für "Schutz", aber auch für die "Wachsamkeit" stehen. Sein Nachbar 19/0 (Abb. 9) streckt uns die linke Hand bettelnd entgegen, was ihn als Allegorie auf Paupertas (Armut) kennzeichnet. Dessen rechte Handhaltung ist symbolisch "auf der Brust – Unterwürfigkeit, die Haltung eines Dieners oder Sklaven".11 Der Putto 20/0 (Abb. 9) zeigt dem Betrachter, das Tuch wäre sein einziger Besitz, seinen Blick wendet er schamhaft von der Armut ab, da er wohl momentan nicht helfen kann. Über den Rücken zieht sich ein ca. 3 cm breiter "Lederriemen". Da sein Bauch zerstört war, kann dort eine Tasche vermutet werden, was ihn als Pilger kennzeichnen würde, dem Obdach zu gewähren ist. Karl Wilhelm Ramler beschreibt die Barmherzigkeit oder Mildtätigkeit in seinem Buch "Kurzgefasste Mythologie". Sie "theilt einem armen Kinde Brot oder Geld mit, und behängt es mit einem Gewande. Oft stellte man zwey oder drey bittende Kinder um sie herum."15 Hier liegt dieselbe Situation wie an der schon beschriebenen Nordseite vor. Wachsamkeit/Schutz, Bettler und Pilger bilden eine Einheit mit der folgenden Gruppe an der Schmalseite. Der rechte Putto von 22/10 empfängt den linken mit Rosen und Christrosen (?) in seiner linken Hand. Der Gastgeber trägt Blüten im Haar. An diesen lässt er einen Phönix zupfen, um sich daraus sein Nest zu bauen. Nach verschiedenen Überlieferungen soll der Sagenvogel alle 500 Jahre diese Stätte seiner Neugeburt aus duftenden Materialien auf einer Palme errichten bevor er wieder in der Ferne verschwindet.16 Die Gruppe zeigt damit das Werk der Barmherzigkeit "Obdachlose beherbergen". Wegen der großen Ähnlichkeit können wir ihr eine erhaltene Zeichnung des Bildhauers Johann Christian Ehrlich (monogrammiert JCE) mit Palme zuordnen.17 Wenn wir nun an die nördliche Schmalseite zurückkehren, finden wir Putto 44/20, der eindeutig den Herbst darstellt. In den Händen hält er einen Weinstock, sein linker Fuß ruht auf einem Kürbis. Den Winter symbolisiert Putto 47/18, der seine Hände an einem kleinen Feuer wärmt. Da sich bisher die Werke der Barmherzigkeit und die noch zu betrachtenden Tugenden symmetrisch verteilen, gehen wir davon aus, dass auch an den Schmalseiten Symmetrie in der Planung gewollt war. Die Aufstellung der Palmengruppen bestärkt diese These. Nun müssten an der südlichen Schmalseite ebenfalls Jahreszeiten stehen. 24/8 zeigt ein Gesteck aus Sommerblumen in einem Korb. Für Putto 25/17 kann nur der Frühling übrig bleiben. Auf der Abbildung 10 erkennt man ihn in schwungholender Tanzhaltung, also braucht es hier Musik. Antonio Vivaldis bekanntestes Werk ist zweifellos "Die vier Jahreszeiten". Zu jeder Jahreszeit gehört ein 14zeiliges Sonett, das den Inhalt beschreibt. Tänze treten nur im Frühling und im Herbst auf, ein Gedichtauszug lautet: "Zum festlichen Ton des Dudelsacks / tanzen Nymphen und Schäfer in der geliebten Wohnung / des Frühlings zu seinem prachtvollen Erscheinen." Vivaldis Werke waren in Zerbst wohlbekannt. Im März 1743 erstellte Johann Friedrich Fasch als Zerbster Hofkapellmeister ein Inventarverzeichnis der Kompositionen in der fürstlichen Musikbibliothek. Hier finden sich zahlreiche Werke von Telemann sowie französischer und italienischer Komponisten, insbesondere von Antonio Vivaldi.18 An der Nordseite erscheinen also die eher kalten Zeiten Winter und Herbst, während die warmen Jahreszeiten im Süden zu finden sind. Einerseits scheinen sie die eindeutig dominierenden Werke der Barmherzigkeit und die noch zu betrachtenden Tugenden an den Langseiten zu trennen, andererseits stellen die Jahreszeiten auch ein Bindeglied dar. Denn natürlich muss der Gläubige seine Werke im ganzen Jahr ausüben und ikonologisch stehen die Jahreszeiten gleichzeitig für das gesamte Leben eines Menschen. Eine weitere Verknüpfung von Hof- und Gartenseite ergibt sich aus der beschrieben Phönixdarstellung an der Südseite bei der Gruppe 22/10. Da der Vogel durch seine sagenhafte Selbstverbrennung und Wiederauferstehung aus der Asche nach Plinius d. Ä. den Umlauf eines Weltenjahres vollendet.16 Dem Putto 27/13 (Abb. 10) fehlt schon auf den ältesten Fotos der linke Arm. Unterhalb des Brustbeines vermuten wir Reste eines Gegenstandes, der vermutlich von der linken Hand gehalten worden ist. Da alle Gruppen Werke der Barmherzigkeit darstellen und die Einzelfiguren extra durch eine Palme vereint wurden (siehe oben), ist dies hier ebenfalls anzunehmen. Aus dem Schluss auf Vollständigkeit der "Sieben Werke der Barmherzigkeit" muss sich an dieser Stelle "Tote beerdigen" ergeben. Unter Beachtung der bisherigen Erkenntnisse könnte das fehlende Teil ein Phönix mit Nest sein, der davon fliegen will. Wenn er nach seiner Wiedergeburt genügend Kraft angesammelt hat, das Nest zu tragen, bringt er seine Wiege und damit gleichzeitig das Grab seines Vaters zum Altar im Sonnentempel. Erst dadurch erfüllt er seine Pflicht, Tote zu beerdigen.16 Der eher sehnsuchtsvolle Blick in die Ferne von Putto 27/13 unterstützt diese These, da er dem Phönix nachschaut. 27/14 wendet sich trauernd vom eigentlichen Geschehen ab. Der Rhythmus an der Gartenseite wurde gegenüber dem Hof geändert, da nur an den Ecken der Seitenpavillons, Gruppen stehen. Zwei davon erklären sich wieder von selbst als Werke der Barmherzigkeit: 40/5 "Betrübte/Trauernde trösten" (Abb. 11) und 29/16 "Lästige geduldig ertragen" (Abb. 12). Das letzte Werk der Barmherzigkeit wird von der montierten Palmengruppe (siehe oben) an der Nordecke der Gartenseite vollbracht. Putto 42/19 (Abb. 13) ist zum Garten gewandt und hält ein geschwungenes Pflanzenteil in der Hand. Offensichtlich hat er das letzte Grün vom bereits abgestorbenen Stamm gerettet, auf den er sich in Trauer stützt. Nun betet er dafür, dass der Steckling mit neuem Leben erfüllt werde. Möglich, dass die Pflanze sogar eine Zypresse darstellen soll, die seit der Antike auch als Symbol für die Trauer gilt. Apollons Freund Kyparissos tötete unabsichtlich seinen Spielgefährten, einen Hirsch, den er selbst aufgezogen hatte. Da er nun selbst nicht mehr weiter leben wollte, bat er Apollon darum, um das geliebte Tier ewig trauern zu dürfen, weshalb ihn der griechische Gott des Lichtes in eine Zypresse verwandelte. Die immergrünen Blätter der Palme, welche die Gruppe überragt, symbolisieren das ewige Leben und Putto 0/23 bringt einen Blütenzweig herbei, der in diesem Fall als Zeichen der Hoffnung gedeutet wird. Die Gruppe steht demnach "Für Lebende und Tote beten". An den Verbindungsbauten zwischen den Pavillons finden sich vier Tugenden. Schon die Haltung des Mädchens 31/15 gibt den Hinweis auf "Humilitas" (Demut). Diese wird in allen drei von uns eingesehenen Ripa-Ausgaben12, 13, 14 übereinstimmend als weiß gekleidete Frau mit verschränkten Armen dargestellt. Putto 33/7 hält in der linken Hand eine große Muschel, aus der Wein (?) fließt. Karl Wilhelm Ramler beschreibt die Mäßigkeit als Diogenes, der seine Trinkschale wegwirft, weil er einen Knaben aus der Hand hat trinken sehen.19 Die Figur 38/4 legt den Zeigefinger der rechten Hand auf den Mund. Joachim Sandrart, Mitglied der schon erwähnten "Fruchtbringenden Gesellschaft" schreibt in seinem achtbändigen Werk: "Harpocrates, eine egyptische Gottheit, wurde für einen Sohn Osiris und der Isis gehalten. Als Gott des Stillschweigens wird er mit dem Finger auf dem Munde abgebildet".20, 21 Der Putto 36/6 hält ein Herz in der rechten Hand, zu seinen Füßen hockt ein kleiner Hund. "Als Symbol der Treue erscheint der Hund in antiker und mittelalterlicher Grabplastik und als Attribut der theologischen Tugend Fides (Glauben)".11, 22 Der Figurenschmuck am Mittelpavillon wurde erst während der Dachsanierung im Jahre 2000 von der Balustrade genommen. Die Figur 0/26 hält einen Lorbeerzweig in den Händen. In galanter Tanzhaltung an Blumen riechend zeigt sich Putto 0/27. Sein linker Fuß berührt nur mit den Zehen den Boden, in beiden Händen und im Haar hat er Rosen und Christrosen (?). Auch Putto 0/25 zeigt sich in schwungholender Tanzhaltung. Der 4. Putto des Mittelpavillons muss am Ende des II. Weltkriegs wohl infolge eines Granateinschlags23 in die Tiefe gestürzt sein und ist heute nicht mehr vorhanden. Bedauerlicherweise konnten wir bisher auch keine aussagekräftigen Fotos von ihm finden. Das Ensemble könnte ein Ballett darstellen, das die Bauherrin von ihrem Geburtsort kannte. Das Hofballett der Barockzeit wurde von der höfischen Gesellschaft selbst aufgeführt. "Es hatte keine Handlung, sondern stellte Themen aus der zeitgenössischen Tugendlehre dar. So gab es aus Anlaß des Endes des Dreißigjährigen Krieges auf Schloß Gottorf ein Ballett, in dem – wie es im gedruckten Programm heißt – 'Glück und Unglück, Laster und Tugend, Krieg und Friede' samt ihren Früchten abgebildet wurde, und 1650 bei der Hochzeit einer Tochter Herzog Friedrichs III. inszenierte man am Schluß ein großes Ballett 'Von Unbeständigkeit der weltlichen Dinge und von Herrlichkeit und Lobe der Tugend.' An dessen Ende traten alle Tänzer mit Früchten auf, die zusammen das Füllhorn des Glücks symbolisieren sollten. Aus der gedruckten Besetzungsliste geht hervor, daß dies ein Schauspiel war, in dem die höfische Gesellschaft sich selbst darstellte und feierte. Unter den männlichen Tänzern erscheinen so an erster Stelle, 'Ihr[o] F[ürstliche] G[naden] der Herr Landgraff von Hessen als Bräutigam' und an zweiter 'Hertzog Friederich von Schleßw[ig-] Holstein'; letzterer trägt zum Füllhorn bezeichnenderweise nicht eine Frucht bei, sondern den Lorbeer, das Sinnbild von Ruhm und Dauer."24 (Unterstreichungen von S. Schüler) Die Figuren am Mittelpavillon greifen demnach das Tugend-Programm der darunter liegenden Attika auf und scheinen hier einen Höhepunkt an exponierter Stelle zu setzen. Nun werden auch die sitzenden Götterfiguren Tugenden, im Sinne von positiven Eigenschaften, verkörpern, die der Bauherrin besonders am Herzen lagen. So erkennen wir an der Ehrenhofseite Minerva,25 die schon im Altertum als Göttin der Weisheit verehrt wurde. Sie wird von der altrömischen Kriegsgöttin Bellona25 begleitet, der wir die Tugend Fortitudo (Starkmut) zuordnen können. Im Gegensatz dazu erscheinen die Großfiguren an der Gartenseite weniger martialisch. Für die Dame mit dem Füllhorn gibt es mehrere Deutungsmöglichkeiten, die aber letztlich auf ähnliche Aussagen zielen. Sie könnte z. B. Liberalitas (Freigiebigkeit), Abundantia (Überfluss) oder Pax (Frieden) darstellen. Letztgenanntem ist der Vorzug zu geben, da er den notwendigen Reichtum erzeugt. Außerdem wurde er bereits durch das Friedensfest der o. g. 4 Putti des Mittelpavillons vorbereitet. So gewinnt der Frieden auf der Gartenseite die Oberhand über die kriegerische Hauptfront. Er kehrt Minerva und Bellona demonstrativ den Rücken zu. Ihm ist Fama25 zugesellt, die vom Ruhm der Fürstin Johanna Elisabeth künden wird. Wer
entwarf das
Figurenkonzept?
Vergleicht man den in St. Petersburg gefundenen Plan der Hofseite mit dem tatsächlichen Befund, so wird man schnell feststellen, dass selbst kleinste Details übereinstimmen (z. B. hölzerne Flammen auf den Gauben, Blumenfestonen über den Balkontüren oder die komplizierte Anordnung der Schlusssteine), aber der Figurenschmuck der Attika und das Wappen nicht. Der rhythmische Wechsel zwischen Vase und Figur wurde an den Rumpfflügeln verändert. Stengel lässt nur die 4 Gruppen in der Nähe des Mittelpavillons mit Palmen schmücken, was diesen architektonischen Höhepunkt mehr betont. Wenn wir chronologisch vorgehen, ergibt sich folgendes Bild: Am 04.06.1753 gibt F. J. Stengel die Anweisung an seinen Maurermeister C. W. Christ, dass die Figuren "nur Kindel" sein sollen.2 Im Juli 1753 erstellt J. C. Ehrlich eine "Specification ... von denen Figuren und Waßen" – 26 Figuren à 20 Rthlr. und 28 Vasen à 20 Rthlr.26 Im selben Monat fragt Christ, ob, wie von Stengel erwogen, die Figuren und Vasen für die Balustrade eventuell wegfallen könnten,3 was an der Bauherrin scheiterte. Im April 1754 werden beim Bildhauer Ehrlich Zeichnungen zu Vasen und Figuren für die Attika angefordert.27 Darauf vereinbart Christ mit den Bildhauern Ehrlich und Bosmann am 13.7.1754 die Anfertigung von 4 sitzenden und 18 einfachen Figuren, des weiteren sollen 12 Gruppen und 26 Vasen hergestellt werden.5 Wie oben erläutert, stimmt diese Bestellung mit Bosmanns Abrechnung und dem Befund überein. Das ursprüngliche Figurenprogramm muss verändert worden sein, da die Zahlen nicht mehr mit der "Ehrlich – Specification" vom Juli 1753 übereinstimmen. Stengel selbst greift ab Mai 1754 nicht mehr ein. Erst am 10.12.1754 finden Verhandlungen mit Bosmann über Gruppen und Vasen statt, damals anzufertigende Zeichnungen sind überliefert.28 Mindestens zwei der hier genannten Entwürfe wurden aber nicht verwirklicht, da weder eine Vase in Eierform noch die dargestellte Gruppe sich innig Umarmender vorhanden sind. Der gesamte Figurenschmuck auf der Attika entstand ab Dezember 1754 und war spätestens zum Rechnungsschluss im Juni 1756 vollendet. Bedenkt man, dass ein Bildhauer pro Einzelfigur oder Vase etwa 3 bis 4 Wochen benötigt, so kann Bosmann die 57 abgerechneten Figuren nicht allein geschaffen haben. Er trat als Generalauftragnehmer gegenüber der Kammer auf und muss die Arbeiten koordiniert haben, da sonst z. B. verschiedene Bildhauer auch verschiedene Phönix-Vögel abgeliefert hätten. In diesem Sinne war der Hofbildhauer Bosmann am Konzept des Figurenensembles beteiligt. Von Stengels Plan blieben im wesentlichen übrig:
Die Darstellung der Werke der Barmherzigkeit sind ein Ausdruck des lutherischen Glaubens der Johanna Elisabeth. Sie wurden tatsächlich auch im Fürstentum praktiziert. Nicht zufällig nimmt das Armenwesen in Zerbst im Jahre 1743, also mit der Übernahme der Herrschaft durch die Seitenlinie Dornburg zu.29 Traditionell dürfte die Frau des Herrschers dafür verantwortlich gewesen sein. Zwischen 1743 und 1745 hat das Fürstenhaus 1084 Taler beigetragen, was etwa einem Drittel der Jahresausgaben entsprach.29 Auch der Brand des Vorgängerbaus von 1750 schimmert im Figurenprogramm durch. Es läuft an der Hofseite von links nach rechts (erhöhter Mittelpavillon ausgeschlossen), beginnend mit "Obdachlose beherbergen" und "Armut". Johanna Elisabeth schrieb nach dem Schlossbrand an Fräulein Kardell: "Alle meine entzückenden Appartements, meine Bibliothek, mein Kabinett sind verbrannt, das gesamte Corps de Logis; ... schließlich welch' Verlust. Und ich ohne Zuflucht, ohne Schlupfwinkel ...".30 Beim Löschen des Brandes und der Bergung ihrer Habe wurde ihr große Hilfe zu Teil. In den Rechnungen der Kammer Zerbst können wir nachlesen, dass die Fürstin sich sehr barmherzig gegenüber den Rettern zeigte: "Zu einiger Erquickung der bei dieser Feuersbrunst zum Löschen und Retten sich eingefundenen und gänzlich entkräfteten Personen ist aus landesmütterlicher Liebe unserer gnädigsten Landesregentin Hochfürstl. Durchl. Brot und Bier herbeigebracht, und weil der in Dornburg befindlich gewesene Vorrat nicht zugereicht, so hat man aus hiesiger Stadt und sonst die nötige Lieferung veranstaltet und dafür bezahlt: 208 Taler 14 Gr. 5 Pfg.".31 Bedenkt man, dass Meister Bosmann pro Einzelfigur 16 Taler erhielt (etwa ein Monatswerk!), so dürfte dies ein "rauschendes Fest" gewesen sein. So könnten die barmherzigen Werke am neuen Schloss zum Programm geworden sein. Zusammenfassend erblicken wir auf der rechten Seite als Abschluss "Gnade" und "Hungrige und Durstige laben". Abschließend kann ich mir folgende Frage nicht verkneifen: An der eher privaten Gartenseite finden sich die Gruppen "Tote beerdigen", "Trauernde trösten" und "Für Lebende und Tote beten", welche die dem Witwensitz angemessene Trauer widerspiegeln. Unter der vierten Palme aber steht "Lästige geduldig ertragen". Nach den Worten der berühmten Tochter lebte unsere Bauherrin mit dem 22 Jahre älteren Christian August "ganz vorzüglich zusammen".32 Sollte hier Peter III. als "Lästiger" gemeint sein, den Katharina II. "geduldig ertragen" soll bis zu seinem Tod? |
|||||||||||||||||||
Abb. 1:
Übersicht zur Aufstellung und Bezeichnung der Putti auf der
Balustrade des Schlosses.
|
|||||||||||||||||||
Abb.
2: 14/11 Werke der Barmherzigkeit: Zweifelnden recht raten.
Foto: E. Micklisch |
|||||||||||||||||||
Abb.
3: 9/24 Werke der Barmherzigkeit: Beleidigungen
gern verzeihen.
Foto: E. Micklisch |
|||||||||||||||||||
Abb.
4: 7/1 Werke der Barmherzigkeit: Nackte bekleiden.
Foto: E. Micklisch |
|||||||||||||||||||
Abb.
5: 5/22 Werke der Barmherzigkeit: Kranke/Gefangene besuchen.
Foto: E. Micklisch |
|||||||||||||||||||
Abb.
6: 1/3 Werke der Barmherzigkeit: Durstige
tränken. Foto: S. Schüler |
|||||||||||||||||||
Abb.
7: 4/2 Schutz und Dank Foto: E. Micklisch |
|||||||||||||||||||
Abb.
8: 17/0 Abb. 8: 7/10
Schutz und
Wachsamkeit
Foto: S. Schüler |
|||||||||||||||||||
Abb.
9: Vorn 19/0 Armut;
im Hintergrund 20/0 ein
Pilger, der zur
nebenstehenden Gruppe Obdachlose beherbergen
gehört.
Foto: S. Schüler |
|||||||||||||||||||
Abb.
10: Links der Putto ohne linken Arm 27/13. Werke der
Barmherzigkeit: Tote
beerdigen, rechts 27/14 Frühling
Foto: H. C. Dittscheid |
|||||||||||||||||||
Abb.
11: 40/5 Werke der Barmherzigkeit:
Betrübte/Trauernde
trösten.
Foto: H. C. Dittscheid |
|||||||||||||||||||
Abb.
12: 29/16 Werke der Barmherzigkeit: Lästige geduldig
ertragen.
Foto: H. C. Dittscheid |
|||||||||||||||||||
Abb.
13: 42/19 Werke der Barmherzigkeit: Für Lebende und
Tote beten.
Foto: S. Schüler |
|||||||||||||||||||
nach oben |